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Der große Umbau: APCC Special Report Strukturen für ein klimafreundliches Leben

Es ist nicht leicht, in Österreich klimafreundlich zu leben. In allen Bereichen der Gesellschaft, von Arbeit und Pflege über Wohnen bis zu Mobilität, Ernährung und Freizeit sind tiefgreifende Veränderungen notwendig, um dauerhaft ein gutes Leben für alle zu ermöglichen, ohne die Grenzen des Planeten zu sprengen. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen zu diesen Fragen haben österreichische Top-Wissenschaftler:innen in zweijähriger Arbeit zusammengetragen, gesichtet und bewertet. So ist dieser Bericht entstanden, der Antwort geben soll auf die Frage: Wie können die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass ein klimafreundliches Leben möglich ist?

Koordiniert hat die Arbeit am Bericht Dr. Ernest Aigner, der auch Scientist for Future ist. Im Interview mit Martin Auer gibt er Auskunft über die Entstehung, den Inhalt und die Ziele des Berichts.

Erste Frage: Was ist dein Hintergrund, was sind die Gebiete, auf denen du arbeitest?

Ernest Aigner
Foto: Martin Auer

Bis letzten Sommer war ich an der Wirtschaftsuniversität Wien am Department für Sozioökonomie angestellt. Mein Hintergrund ist ökologische Ökonomie, also ich habe sehr viel zu der Schnittstelle Klima, Umwelt und Wirtschaft gearbeitet – aus verschiedenen Blickwinkeln – und im Rahmen dessen habe ich eben in den letzten beiden Jahren – von 2020 bis 2022 – den Bericht „Strukturen für ein Klimafreundliches Leben“ mit herausgegeben und koordiniert. Jetzt bin bei der „Gesundheit Österreich GmbH“ in der Abteilung „Klima und Gesundheit“, in der wir zum Zusammenhang Klimaschutz und Gesundheitsschutz arbeiten.

Das ist ein Bericht des APCC, des „Austrian Panel on Climate Change“. Was ist das APCC und wer ist das?

Das APCC ist sozusagen das österreichische Pendant zum Intergovernmental Panel on Climate Change, auf Deutsch „Weltklimarat“. Das APCC ist angesiedelt an das CCCA, das ist das Zentrum für Klimaforschung in Österreich, und dieses gibt die APCC-Berichte heraus. Der erste von 2014 war ein allgemeiner Bericht, der den Stand der Klimaforschung in Österreich so zusammenfasst, dass Entscheidungstragende und auch die Öffentlichkeit informiert werden, was die Wissenschaft zum Klima im breitesten Sinne zu sagen hat. In regelmäßigen Abständen werden Special Reports herausgegeben, die sich mit speziellen Themenfeldern beschäftigen. Es hat zum Beispiel einen Special Report gegeben zu „Klima und Tourismus“, dann hat es einen zum Thema Gesundheit gegeben, und der kürzlich veröffentlichte „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“ fokussiert auf Strukturen.

Strukturen: Was ist eine „Straße“?

Was sind „Strukturen“? Das kling furchtbar abstrakt.

Ganz genau, es ist furchtbar abstrakt, und wir hatten selbstverständlich viele Debatten dazu. Ich würde einmal sagen, zwei Dimensionen sind besonders für diesen Bericht: Das eine ist, dass es ein sozialwissenschaftlicher Bericht ist. Die Klimaforschung wird ja oft sehr stark von den Naturwissenschaften geprägt, weil sie sich mit Meteorologie beschäftigt und mit Geowissenschaften und so weiter, und dieser Bericht ist ganz klar in den Sozialwissenschaften verankert und argumentiert eben, dass sich Strukturen verändern müssen. Und Strukturen sind all jene Rahmenbedingungen, die das alltägliche Leben prägen und gewisse Handlungen ermöglichen, gewisse Handlungen verunmöglichen, manche Handlungen nahelegen und andere Handlungen eher nicht nahelegen.

Ein klassisches Beispiel ist ein Straße. Da würde man zuerst über Infrastruktur nachdenken, das ist also alles Physische, aber dann gibt es auch das ganze rechtliche Regelwerk, also die Rechtsnormen. Die machen die Straße erst zur Straße, und so ist der rechtliche Rahmen auch eine Struktur. Dann ist natürlich auch eine Voraussetzung um die Straße benutzen zu können, das Eigentum an einem Auto zu haben beziehungsweise die Möglichkeit, eines zu kaufen. Insofern spielen auch Preise eine zentrale Rolle, Preise und Steuern und Förderungen, auch diese stellen eine Struktur dar. Ein weiterer Aspekt ist natürlich, ob Straßen oder das Benutzen von Straßen mit dem Auto positiv oder negativ dargestellt wird – wie darüber gesprochen wird. In dem Sinn kann man über mediale Strukturen sprechen. Selbstverständlich spielt auch eine Rolle, wer die größeren Autos fährt, wer die kleineren, wer mit dem Rad fährt. Insofern spielt auch soziale und räumliche Ungleichheit in der Gesellschaft eine Rolle – also wo man lebt und welche Möglichkeiten man hat. So kann man aus sozialwissenschaftlicher Perspektive systematisch verschiedene Strukturen abarbeiten und sich die Frage stellen, inwiefern diese jeweiligen Strukturen in den jeweiligen Fachgebieten ein klimafreundliches Leben erschweren oder erleichtern. Und das war der Zweck dieses Berichts.

Vier Sichtweisen auf Strukturen

Der Bericht ist ja einerseits strukturiert nach Handlungsfeldern und andererseits nach Herangehensweisen, also z. B. über den Markt oder über tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen oder technologische Innovationen. Kann man das ein bisschen näher ausführen?

Perspektiven:

Marktperspektive: Preissignale für klimafreundliches Leben…
Innovationsperspektive: soziotechnische Erneuerung von Produktions- und Konsumptionssystemen…
Bereitstellungsperspektive: Bereitstellungssysteme, die suffiziente und resiliente Praktiken und Lebensformen erleichtern…
Gesellschafts-Natur-Perspektive: Verhältnis Mensch und Natur, Kapitalakkumulation, soziale Ungleichheit…

Ja, im ersten Abschnitt werden verschiedene Herangehensweisen bzw. Theorien beschrieben. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht ist es klar, dass verschiedene Theorien nicht zum selben Ergebnis kommen. Insofern können verschiedene Theorien in unterschiedliche Gruppen eingeteilt werden. Wir im Bericht schlagen vier Gruppen vor, vier verschiedene Herangehensweisen. Die eine Herangehensweise, die viel in der öffentlichen Debatte ist, ist der Fokus auf Preismechanismen und auf Marktmechanismen. Eine zweite, die zunehmend Aufmerksamkeit erhält, aber nicht so prominent ist, sind die verschiedenen Versorgungsmechanismen und Bereitstellungsmechanismen: Wer die Infrastruktur bereitstellt, wer den Rechtsrahmen bereitstellt, wer die Versorgung mit Dienstleistungen und Gütern bereitstellt. Eine dritte Perspektive, die wir in der Literatur identifiziert haben, ist der Fokus auf Innovationen im breiten Sinn, also zum einen natürlich technische Aspekte von Innovationen, aber auch alle sozialen Mechanismen, die damit einhergehen. Zum Beispiel bei der Etablierung von Elektroautos oder E-Scootern verändert sich nicht nur die Technik, die dem zugrunde liegt, sondern auch die sozialen Verhältnisse. Die vierte Dimension, das ist die Gesellschaft-Natur-Perspektive, das ist das Argument, dass man auf große wirtschaftliche und geopolitische und soziale langfristige Trends achten muss. Dann wird erkenntlich, wieso Klimapolitik in vielerlei Hinsicht nicht so erfolgreich ist, wie man erhoffen würde. Zum Beispiel Wachstumszwänge, aber auch geopolitische Gemengelagen, demokratiepolitische Fragestellungen. Also wie die Gesellschaft sich auch zum Planeten verhält, wie wir die Natur verstehen, ob wir die Natur als eine Ressource verstehen oder uns als Teil der Natur verstehen. Das wäre die Gesellschafts-Natur-Perspektive.

Die Handlungsfelder

Aufbauend auf diesen vier Perspektiven gibt es die Handlungsfelder. Da sind die, die oft in der Klimapolitik diskutiert werden: Mobilität, Wohnen, Ernährung, und dann noch mehrere andere, bisher nicht so oft diskutierte, wie zum Beispiel das Thema Erwerbsarbeit, das Thema Sorgearbeit.

Handlungsfelder:

Wohnen, Ernährung, Mobilität, Erwerbsarbeit, Sorgearbeit, Freizeit und Urlaub

Dann versucht der Bericht Strukturen zu identifizieren, die diese Handlungsfelder prägen. Zum Beispiel der Rechtsrahmen ist prägend dafür, wie klimafreundlich gewohnt wird. Die Governance-Mechanismen, zum Beispiel der Föderalismus, wer welche Entscheidungskompetenzen hat, welche Rolle die EU hat, sind prägend, inwiefern Klimaschutz durchgesetzt wird oder wie rechtsverbindlich ein Klimaschutzgesetz eingeführt wird – oder eben auch nicht. Dann geht’s weiter: wirtschaftliche Produktionsprozesse oder die Wirtschaft als solches, Globalisierung als eine globale Struktur, Finanzmärkte als eine globale Struktur, soziale und räumliche Ungleichheit, die Versorgung mit sozialstaatlichen Dienstleistungen, und selbstverständlich ist auch die Raumplanung ein wesentliches Kapitel. Bildung, wie das Bildungssystem funktioniert, ob es auch auf Nachhaltigkeit ausgerichtet ist oder nicht, inwiefern die notwendigen Kompetenzen beigebracht werden. Dann die Frage der Medien und der Infrastrukturen, wie das Mediensystem aufgebaut ist und welche Rolle Infrastrukturen haben.

Strukturen, die in allen Handlungsfeldern klimafreundliches Handeln behindern oder fördern:

Recht, Governance und politische Beteiligung, Innovationssystem und -politik, Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, Globale Warenketten und Arbeitsteilung, Geld- und Finanzsystem, Soziale und räumliche Ungleichheit, Sozialstaat und Klimawandel, Raumplanung, Mediendiskurse und -strukturen, Bildung und Wissenschaft, netzgebundene Infrastrukturen

Transformationspfade : Wie kommen wir von hier nach dort?

All das, von den Betrachtungsweisen, zu den Handlungsfelder, zu den Strukturen, wird in einem letzten Kapitel verbunden zu Transformationspfaden. Die noch einmal systematisch aufbereiten, welche Gestaltungsoptionen besonders das Potential haben, Klimaschutz voranzutreiben, welche sich gegenseitig befruchten, wo es eventuell Widersprüche gibt, und das zentrale Ergebnis dieses Kapitels ist, dass sehr viel Potential darin liegt, dass man verschiedene Herangehensweisen in Verbindung bringt und verschiedene Gestaltungsoptionen unterschiedlicher Strukturen zusammen denkt. Damit schließt der Bericht als Gesamtes.

Mögliche Wege zur Transformation

Leitplanken für eine klimafreundliche Marktwirtschaft (Bepreisung von Emissionen und Ressourcenverbrauch, Abschaffung klimaschädlicher Subventionen, Technologieoffenheit)
Klimaschutz durch koordinierte Technologieentwicklung (staatlich koordinierte technologische Innovationspolitik zur Effizienzsteigerung)
Klimaschutz als staatliche Vorsorge (staatlich koordinierte Maßnahmen zur Ermöglichung klimafreundlichen Lebens, z. B. durch Raumordnung, Investition in öffentlichen Verkehr; rechtliche Regelungen zur Einschränkung klimaschädlicher Praktiken)
Klimafreundliche Lebensqualität durch soziale Innovation (gesellschaftliche Neuorientierung, regionale Wirtschaftskreisläufe und Suffizienz)

Klimapolitik geschieht auf mehr als einer Ebene

Der Bericht ist ja sehr stark auf Österreich und Europa bezogen. Die globale Situation wird behandelt, insofern es da eine Wechselwirkung gibt.

Ja, das Besondere an diesem Bericht ist, dass er sich auf Österreich bezieht. Das ist ja schon – aus meiner Sicht – eine der Schwächen dieser IPCC-Weltklimarat-Berichte, dass sie inhärent immer eine globale Perspektive als Ausgangspunkt nehmen müssen. Danach gibt es schon auch Unterkapitel für jeweilige Regionen wie Europa, ganz viel Klimapolitik passiert aber auf anderen Ebenen, sei es jetzt Gemeinde, Bezirk, Land, Bund, EU… Also der Bericht bezieht sich stark auf Österreich. Das ist auch der Zweck der Übung, allerdings wird Österreich schon als Teil einer globalen Wirtschaft verstanden. Deswegen gibt es auch das Kapitel über Globalisierung und ein Kapitel, das sich auf globale Finanzmärkte bezieht.

Es heißt auch „Strukturen für ein klimafreundliches Leben“ und nicht für ein nachhaltiges Leben. Die Klimakrise ist ja aber Teil einer umfassenden Nachhaltigkeitskrise. Ist das historisch bedingt, weil es das Austrian Panel on Climate Change ist, oder gibt’s da noch eine andere Begründung?

Ja, das ist im Prinzip der Grund. Es handelt sich um einen Klimabericht, deswegen richtet sich der Fokus auf das klimafreundliche Leben. Allerdings, wenn man sich den aktuellen IPCC-Bericht ansieht oder die gegenwärtige Klimaforschung, kommt man relativ schnell zum Schluss, dass der reine Fokus auf Treibhausgasemissionen tatsächlich nicht zielführend sein wird. Daher haben wir uns auf Berichtsebene dafür entschieden, das klimafreundliche Leben wie folgt zu verstehen: „Klimafreundliches Leben sichert dauerhaft ein Klima, das ein gutes Leben innerhalb planetarer Grenzen ermöglicht.“ In diesem Verständnis ist zum einen die Betonung darauf, dass es eine klare Ausrichtung am guten Leben gibt, was bedeutet, dass soziale Grundbedürfnisse gesichert sein müssen, eine Grundversorgung besteht, dass Ungleichheit reduziert wird. Das ist die soziale Dimension. Auf der anderen Seite die Frage der planetaren Grenzen, da geht es nicht nur darum, die Treibhausgas-Emissionen zu reduzieren, sondern dass auch die Biodiversitätskrise eine Rolle spielt, oder Phosphor- und Nitratkreisläufe usw., und in diesem Sinne das klimafreundliche Leben deutlich breiter verstanden wird.

Ein Bericht nur für die Politik?

An wen wendet sich eigentlich der Bericht? Wer ist der Adressat?

Der Bericht wurde am 28. 11. 2022 der Öffentlichkeit vorgestellt
Prof. Karl Steininger (Herausgeber), Martin Kocher (Arbeitsminister), Leonore Gewessler (Umweltministerin), Prof. Andreas Novy (Herausgeber)
Foto: BMK / Cajetan Perwein

Der Adressat sind zum einen all jene, die Entscheidungen treffen, die ein klimafreundliches Leben erleichtern oder erschweren. Das ist natürlich nicht bei allen gleich. Zum einen auf jeden Fall die Politik, gerade jene Politiker:innen, die besondere Kompetenzen haben, offensichtlich das Klimaschutzministerium, aber selbstverständlich auch das Arbeits- und Wirtschaftsministerium oder Sozial- und Gesundheitsministerium, auch das Bildungsministerium. Also die jeweiligen Fachkapitel adressieren die jeweiligen Ministerien. Aber auch auf Länderebene all jene, die die Kompetenzen haben, auch auf Gemeindeebene, und selbstverständlich entscheiden auch Unternehmen in vielerlei Hinsicht, ob klimafreundliches Leben ermöglicht oder erschwert wird. Offensichtliches Beispiel ist, ob die jeweiligen Lade-Infrastrukturen zur Verfügung stehen. Weniger diskutierte Beispiele sind, ob die Arbeitszeitarrangements überhaupt ermöglichen, klimafreundlich zu leben. Ob ich so arbeiten kann, dass ich mich in meiner Freizeit oder im Urlaub klimafreundlich fortbewegen kann, ob der Arbeitgeber Home-Office ermöglicht oder erlaubt, mit welchen Rechten das in Verbindung steht. Das sind dann auch Adressat:innen…

Protest, Widerstand und öffentliche Debatte sind zentral

…und selbstverständlich die öffentliche Debatte. Weil tatsächlich ganz klar aus diesem Bericht hervorkommt, dass Protest, Widerstand, öffentliche Debatte und mediale Aufmerksamkeit zentral sein werden, um klimafreundliches Leben zu erreichen. Und der Bericht versucht zu einer fundierten öffentlichen Debatte beizutragen. Mit dem Ziel, dass sich die Debatte am aktuellen Stand der Forschung orientiert, dass sie relativ nüchtern die Ausgangssituation analysiert und versucht, Gestaltungsoptionen auszuhandeln und koordiniert umzusetzen.

Foto: Tom Poe

Und wird jetzt der Bericht in den Ministerien gelesen?

Das kann ich nicht beurteilen, weil ich nicht weiß, was in den Ministerien gelesen wird. Wir sind mit unterschiedlichen Akteuren in Kontakt, und zum Teil haben wir schon auch gehört, dass die Zusammenfassung zumindest von Referent:innen gelesen worden ist. Ich weiß, die Zusammenfassung ist schon sehr oft heruntergeladen worden, wir bekommen immer wieder Anfragen zu verschiedenen Themen, aber selbstverständlich würden wir uns noch mehr mediale Aufmerksamkeit wünschen. Es gab eine Pressekonferenz mit Herrn Kocher und Frau Gewessler. Das wurde auch medial rezipiert. Es gibt immer wieder Zeitungsartikel dazu, aber selbstverständlich ist aus unserer Sicht da noch Raum nach oben. Insbesondere kann auf den Bericht sehr oft verwiesen werden, wenn gewisse Argumente eingebracht werden, die aus klimapolitischer Sicht nicht haltbar sind.

Die gesamte wissenschaftliche Community war einbezogen

Wie war denn eigentlich die Vorgangsweise? Da sind 80 Forschende beteiligt gewesen, aber die haben jetzt nicht eine neue Forschung begonnen. Was haben die gemacht?

Ja, es handelt sich bei dem Bericht um kein originäres wissenschaftliches Projekt, sondern um eine Zusammenfassung der gesamten relevanten Forschung in Österreich. Das Projekt wird gefördert vom Klimafonds, der auch dieses APCC-Format vor 10 Jahren in die Wege geleitet hat. Dann wird ein Prozess initiiert, wo sich Forschende bereit erklären, unterschiedliche Rollen einzunehmen. Dann wurden die Mittel für die Koordination beantragt, und im Sommer 2020 hat dann der konkrete Prozess begonnen.

Wie auch beim IPCC ist das eine sehr systematische Vorgehensweise. Zum einen gibt es drei Ebenen von Autor:innen: Es gibt die Hauptautor:innen, eine Ebene darunter die Leitautor:innen und eine Ebene darunter die beitragenden Autor:innen. Die koordinierenden Autor:innen haben die Hauptverantwortung über das jeweilige Kapitel, beginnen einen ersten Entwurf zu schreiben. Dieser Entwurf wird dann von allen anderen Autor:innen kommentiert. Die Hauptautor:innen müssen auf die Kommentare reagieren. Die Kommentare werden eingearbeitet. Dann wird ein weiterer Entwurf geschrieben und die gesamte wissenschaftliche Community wird gebeten, wiederum Kommentare abzugeben. Die Kommentare werden wieder beantwortet und eingearbeitet, und im nächsten Schritt wird dasselbe Prozedere nochmal gemacht. Und am Ende werden externe Akteure dazu geholt und gebeten, zu sagen ob alle Kommentare adäquat behandelt worden sind. Das sind noch einmal andere Forscher:innen.

Das heißt, es waren jetzt nicht nur die 80 Autor:innen beteiligt?

Nein, es waren noch 180 Reviewer:innen. Aber das ist nur der wissenschaftliche Prozess. Alle Argumente, die im Bericht verwendet werden, müssen literaturbasiert sein. Forscher:innen können nicht ihre eigene Meinung schreiben, oder was sie denken, was stimmt, sondern tatsächlich können sie nur Argumente machen, die sich so auch in der Literatur wiederfinden, und sie müssen diese Argumente dann auf Basis der Literatur einschätzen. Sie müssen sagen: Dieses Argument wird von der gesamten Literatur geteilt und es gibt sehr viel Literatur dazu, also das gilt als gesichert. Oder sie sagen: Da gibt’s nur eine Publikation dazu, nur schwache Evidenz, es gibt widersprüchliche Ansichten, dann müssen sie das auch anführen. Insofern handelt es sich um eine bewertende Zusammenfassung des Stands der Forschung mit Hinblick auf die wissenschaftliche Qualität zur jeweiligen Aussage.

Alles, was in dem Bericht steht, basiert auf einer Literaturquelle, und insofern sind die Aussagen immer mit Hinblick auf die Literatur zu lesen und auch zu verstehen. Wir haben dann auch darauf geachtet, dass in der Zusammenfassung für Entscheidungstragende jeder Satz für sich steht und immer klar ist, auf welches Kapitel sich dieser Satz bezieht, und im jeweiligen Kapitel kann dann recherchiert werden, auf welche Literatur sich dieser Satz bezieht.

Stakeholder aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen wurden eingebunden

Bis jetzt habe ich nur über den wissenschaftlichen Prozess gesprochen. Es hat begleitend einen sehr umfassenden Stakeholderprozes gegeben, und im Rahmen dessen hat es auch einen Online-Workshop und zwei physische Workshops mit jeweils 50 bis 100 Stakeholder:innen gegeben.

Wer waren die? Wo kamen die her?

Aus Wirtschaft und Politik, aus der Klimagerechtigkeitsbewegung, aus Verwaltung, Unternehmen, Zivilgesellschaft – aus unterschiedlichsten Akteursfeldern. Also möglichst breit aufgestellt und immer in Bezug zu den jeweiligen Themenfeldern.

Diese Menschen, die ja keine Wissenschaftler:innen waren, die mussten sich da jetzt durcharbeiten?

Da gab es verschiedene Zugänge. Der eine war, dass man online die jeweiligen Kapitel kommentiert. Die mussten sich da durcharbeiten. Der andere war, dass wir Workshops organisiert haben, um einen besseren Einblick zu bekommen, was die Stakeholder brauchen, also welche Informationen für sie hilfreich sind, und zum anderen ob sie noch Hinweise haben, welche Quellen wir noch beachten sollen. Die Ergebnisse des Stakeholderprozesses wurden in einem eigenen Stakeholderbericht veröffentlicht.

Ergebnisse aus dem Stakeholder-Workshop

Viel freiwillige unbezahlte Arbeit steckt in dem Bericht

Also insgesamt ein sehr aufwendiger Prozess.

Das ist nichts, was man einfach nur kurz hinschreibt. Diese Zusammenfassung für Entscheidungsträger:innen, da haben wir fünf Monate daran gearbeitet… Es sind gesamt ´gut 1000 bis 1500 Kommentare eingearbeitet worden, und es haben 30 Autor:innen wirklich mehrmals gelesen und bis auf jedes Detail abgestimmt. Und dieser Prozess passiert nicht im luftleeren Raum, ist aber tatsächlich im Wesentlichen unbezahlt geschehen, das muss man schon auch sagen. Die Bezahlung für diesen Prozess betraf die Koordination, also ich war finanziert. Die Autor:innen haben eine kleine Anerkennung bekommen, die nie und nimmer ihre Aufwände reflektiert. Die Reviewer:innen haben keine finanziellen Mittel erhalten, die Stakeholder:innen auch nicht.

Eine wissenschaftliche Basis für den Protest

Wie kann die Klimagerechtigkeitsbewegung diesen Bericht nützen?

Ich denke der Bericht kann auf sehr viele Arten genutzt werden. Man sollte ihn auf jeden Fall ganz stark in die öffentliche Debatte einbringen, auch die Politik darauf hinweisen, was alles möglich ist und was nötig ist. Da werden ganz viele Gestaltungsoptionen aufgezeigt. Ein wesentlicher Punkt ist hier auch: Der Bericht verweist sehr explizit darauf, dass, wenn es kein stärkeres Engagement aller Akteure gibt, dass die Klimaziele schlicht verfehlt werden. Das ist der Stand der Forschung, da gibt es Einigkeit im Bericht, und diese Message muss an die Öffentlichkeit kommen. Die Klimagerechtigkeitsbewegung wird sehr viele Argumente finden, wie klimafreundliches Leben im Zusammenhang mit Einkommens- und Vermögensungleichheit betrachtet werden kann. Auch welche Bedeutung die globale Dimension hat. Es gibt viele Argumente dazu, die die Beiträge der Klimagerechtigkeitsbewegung schärfen und auf eine bessere wissenschaftliche Basis stellen können.

Foto: Tom Poe

Es gibt auch eine Nachricht in dem Bericht, die lautet: „Durch Kritik und Protest hat die Zivilgesellschaft Klimapolitik ab 2019 weltweit zeitweise ins Zentrum öffentlicher Debatten gebracht“, also da ist schon relativ klar, dass das wesentlich ist. „Wesentlich hierfür war das koordinierte Handeln sozialer Bewegungen wie z. B. Fridays for Future, das zur Folge hatte, dass der Klimawandel als gesellschaftliches Problem diskutiert wird. Diese Entwicklung hat neue klimapolitische Gestaltungsspielräume eröffnet. Umweltbewegungen können ihr Potential allerdings nur dann entfalten, wenn sie von einflussreichen politischen Akteur_innen innerhalb und außerhalb der Regierung unterstützt werden.“ Das ist schon der nächste Aspekt: Die Bewegung baut Druck auf und kann Veränderungen herbeiführen, allerdings braucht es auch Akteure, die in den jeweiligen entscheidungsträchtigen Positionen sitzen, die dann auch tatsächlich Veränderungen umsetzen können.

Jetzt ist die Bewegung ja auch darauf aus, diese Entscheidungsstrukturen, die Machtverhältnisse zu verändern. Also zum Beispiel wenn man sagt: Na ja, Klimarat der Bürger:innen ist schön und gut, aber der braucht auch Kompetenzen, der braucht auch Entscheidungsbefugnisse. So etwas wäre eigentlich eine sehr große Veränderung in unseren demokratischen Strukturen.

Ja, der Bericht sagt wenig bis nichts aus zum Klimarat, weil er gleichzeitig stattgefunden hat, insofern gibt es da keine Literatur, die aufgegriffen werden könnte. An und für sich würde ich dir da schon recht geben, aber nicht literaturbasiert, sondern aus meinem Hintergrund heraus.

Lieber Ernest, vielen Dank für das Gespräch!

Der Bericht wird Anfang 2023 als Open Access Buch bei Springer Spektrum erscheinen. Bis dahin sind die jeweiligen Kapitel auf der Homepage des CCCA verfügbar.

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