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HIV – Status Quo

Noch in der letzten Reihe knarren die Holzbänke. Die lutherische Kirche in Maun ist gut besucht an diesem sonnigen Märztag in Botswana. Viele wollen hören, was der Pfarrer predigt. Doch es ist nicht der Priester, der heute zu ihnen spricht, sondern Stella Sarwanyane. Der 52-Jährigen liegt etwas auf dem Herzen – was sie zu sagen hat, wird viele Messebesucher später zu Tränen rühren. „Ich danke Gott, dass ich noch lebe! Ich kann heute zwar ein ganz normales Leben führen, aber ich bitte euch: Seid vorsichtig! Jeder kann sich mit HIV infizieren, ob jung oder alt. So, wie ich mich infiziert habe.“

Über HIV

Der Humane Immunschwäche Virus Typ 1 wurde von den französischen Virologen Luc Montagnier und Francois Barré-Sinoussi im Jahr 1983 entdeckt. Ein positiver Antikörpertest bedeutet, dass eine Infektion mit dem Virus stattgefunden hat. Der Infizierte muss deshalb aber weder Beschwerden noch Krankheitssymptome haben. Das Virus stammt vom Affen und wurde vermutlich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf den Menschen übertragen.

AIDS
Der HI-Virus kann im Laufe der Infektion zu einer massiven Schwächung des Immunsystems führen. An AIDS erkrankt zu sein bedeutet, dass entweder besondere Krankheitserreger die Schwäche des Immunsystems nutzen, um Infektionen auszulösen. Oder dass dadurch bestimmte Tumore auftreten. Unbehandelt führt die Krankheit in vielen Fällen zum Tod.

Forschung
Die moderne Medizin ist mittlerweile in der Lage, HIV-positiven Menschen ein völlig normales Leben zu ermöglichen. Selbst die Übertragung des Virus kann durch die sogenannte Antiretrovirale Therapie verhindert werden. Doch der Zugang zu dieser Therapie bleibt vielen – vor allem in Entwicklungsländern – verwehrt.

„Und auf einmal war es zu spät!“

Das südafrikanische Land Botswana hat die dritthöchste HIV-Prävalenz der Welt – rund ein Drittel der Erwachsenen ist mit dem Humanen Immundefizienz Virus (HIV) infiziert. Doch das Thema ist ein gesellschaftliches Tabu, Infizierte werden oft sozial stigmatisiert. Umso mehr berührt die öffentliche Rede von Stella Sarwanyane. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, aufzuzeigen, aufzuklären, mit dem Tabu zu brechen. Das hätte womöglich auch sie vor zwanzig Jahren vor einer Ansteckung mit dem HI-Virus bewahrt, erzählt sie. „Ich dachte damals, HIV bekommen doch nur die, die mit vielen Menschen Sex haben. Doch nicht ich, denn ich hatte ja nur mit meinem Partner Sex. Ich habe ihm vertraut, doch das war ein großer Fehler. Er hat mir nicht erzählt, dass er auch mit anderen Frauen Geschlechtsverkehr hat. Und auf einmal war es zu spät!“

„Die Sterberate ist deutlich zurückgegangen und die Menschen haben eine ebenso gute Lebensqualität, als wenn sie nie infiziert worden wären. Selbst die Lebensdauer ist ähnlich lange.“
AIDS-Experte Norbert Vetter

Enorme Fortschritte in der Medizin

Stella Sarwanyane teilt ihr Schicksal mit rund 35 Millionen Menschen, die im Jahr 2013 weltweit mit HIV infiziert waren. Im gleichen Jahr haben sich 2,1 Millionen neu infiziert – doch das sind nur die offiziellen Zahlen. Die Dunkelziffer vermag niemand so richtig abzuschätzen. In Österreich stecken sich jährlich etwa 500 Menschen an. Die gute Nachricht, immerhin: Die Zahl der Neuinfektionen wird langsam kleiner, denn die moderne Medizin hat seit der Entdeckung des Virus im Jahre 1983 große Fortschritte gemacht. Mit ihrer Hilfe können HIV-Positive Menschen heute beinahe ohne Einschränkungen leben – der Ausbruch des Autoimmunschwäche-syndroms AIDS (Acquired Immune Deficiency Syndrom) kann bereits sehr gut verhindert werden, erklärt AIDS-Experte Norbert Vetter: „Die Sterberate ist deutlich zurückgegangen und die Menschen haben eine ebenso gute Lebensqualität, als wenn sie nie infiziert worden wären. Selbst die Lebensdauer ist ähnlich lange.“ Möglich wurde das durch die sogenannte Antiretrovirale Therapie (ARV), einen Cocktail aus Wirkstoffen in Tablettenform. Täglich eingenommen bewirkt er, dass der HI-Virus vollständig aus dem Blut verschwindet. Doch das funktioniert nur, so lange die Therapie auch konsequent angewendet wird. Laienhaft gesprochen: Die Viren verschwinden nämlich nicht, sondern verstecken sich nur. Wird die Therapie ausgesetzt, würden sie sofort wieder auftauchen und sich vermehren. Nur deshalb gilt HIV immer noch als unheilbar.

Fakten

35 Millionen Menschen weltweit waren im Jahr 2013 mit dem HI-Virus infiziert

Seit dem Ausbruch der Epidemie haben sich rund 78 Millionen Menschen infiziert, 39 Millionen sind an AIDS-Erkrankungen gestorben

Die Infektionsrate geht zurück: Weltweit haben sich im Jahr 2013 etwa 2,1 Millionen Menschen mit HIV infiziert. 2001 waren es noch 3,4 Millionen.

70 Prozent der Neuinfektionen finden in den Sub-Sahara-Ländern Afrikas statt. Nur 37 Prozent aller Infizierten haben Zugang zur Antiretroviralen Therapie
Quelle: UNAIDS-Report 2013

HIV-Tests sind schwer zugänglich

Sogar eine Übertragung des Virus kann durch die ARV-Therapie verhindert werden, meint Vetter: „Hochrisikopaare, bei denen ein Partner HIV-positiv ist, können eine Infektion verhindern, indem der HIV-negative Partner vor dem Sex die Therapie macht. Und ARV kann selbst dann helfen, wenn es schon zu spät ist. Wenn man unmittelbar nach dem riskanten Geschlechtsverkehr oder einer Nadelstichverletzung die Therapie beginnt, kann verhindert werden, dass sich der Virus etabliert.“ In Wien bieten das AKH und das Otto-Wagner-Spital solche Prophylaxen an. Doch die wirken nur bis zu maximal 72 Stunden nach dem Kontakt. Das kann sich nur ausgehen, wenn infizierte Personen auch wissen, dass sie infiziert sind. Und das ist immer noch das Hauptproblem. Daher plädieren Experten wie Norbert Vetter schon seit Langem dafür, dass HIV-Tests leichter zugänglich werden: „Man kann in der Apotheke zwar einen Schwangerschaftstest kaufen, wenn man glaubt, schwanger zu sein. Aber man kann keinen Schnelltest kaufen, wenn man befürchtet, sich mit HIV infiziert zu haben. Mit solchen Tests und einem Tropfen Blut kann man innerhalb von zwanzig Minuten Gewissheit bekommen.“ Doch in Österreich und vielen anderen Ländern ist die Hürde HIV-Test immer noch zu hoch, weil Schnelltests nur sehr schwierig zu bekommen sind, schon gar nicht in der Apotheke. Ein Beleg dafür, dass die Medizin viel weiter ist als die Gesellschaft – für viele ist das Thema immer noch tabu, vor allem konservative Kreise klammern es gerne aus. Dabei ist die gesellschaftliche Akzeptanz die Grundvoraussetzung, um den Virus in den Griff zu kriegen. Und ihn irgendwann einmal vollständig auszurotten.

Langsam …

Davon ist die Menschheit im Jahre 2015 aber noch weit entfernt. Die Erfolge gegen die globale Pandemie sind nämlich höchst unterschiedlich über den Erdball verteilt. So sind die Sub-Sahara-Staaten, unter ihnen auch Botswana, für insgesamt 70 Prozent der Neuinfektionen verantwortlich. Das liegt zunächst einmal daran, dass viele Menschen dort eben keinen Zugang zu medizinischen Errungenschaften haben. Nur etwas mehr als ein Drittel aller weltweit mit HIV infizierten Menschen bekommt die ARV-Therapie. Im Umkehrschluss ist davon auszugehen, dass beinahe zwei Drittel irgendwann an AIDS erkranken. Und weiterhin viele Gelegenheiten haben werden, den HI-Virus zu übertragen. Zwar gehen auch in den Entwicklungsländern die Infektionsraten zurück, aber das passiert nur sehr langsam.

… aber stetig!

In Botswana unterstützt die Regierung infizierte Menschen, indem sie die ARV-Therapie bezahlt. Eine kostspielige Angelegenheit in einem Land, in dem rund ein Drittel aller Erwachsenen HIV-positiv ist. Doch die Leute haben auch gelernt, mit dem Virus umzugehen und ihn als das zu sehen, was er ist: Als Teil ihres Alltags. Um mehr darüber zu erfahren, besuche ich das Maun Homeopathy Project in Botswana. Eine kleine Klinik im geschäftigen Zentrum der 50.000-Einwohner-Stadt Maun. Durch Spenden finanziert, mit einem Wartezimmer und einem Behandlungsraum. HIV-Patienten holen sich dort die Unterstützung von Homöopathie. Auch Stella Sarwanyane ist eine von ihnen. Als die Klinik im Jahr 2002 gegründet wurde, war sie die allererste Patientin.

Heute arbeitet dort auch ihre Tochter Lebo Sarwanyane: „Viele Menschen können nicht akzeptieren, dass sie HIV-positiv sind. Der Schock bestimmt ihr Leben, macht sie traurig und wütend. Doch mit diesen negativen Emotionen ist der Körper nur schlecht in der Lage, die Antiretrovirale Therapie anzunehmen. Wir helfen ihnen, ihre Krankheit zu akzeptieren und unterstützen ihre Körper, die Medizin zu verarbeiten.“ 35 Personen versorgt das Maun Homeopathy Project jeden Tag mit den homöopathischen Tabletten – hier in Maun und in entlegenen Dörfern. Insgesamt waren das bisher rund 3.000 Patientinnen und Patienten. Das Charity-Projekt hat vieles verändert, seit es Hilary Fairclough gegründet hat: „Als wir nach Botswana gekommen sind, haben wir gesehen, wie die Bevölkerung hier an HIV und AIDS leidet. Am Ende sterben viele alleine. Ich wusste, dass Homöopathie der traumatisierten Gesellschaft helfen kann – deshalb haben wir das Projekt gegründet.“

Ein kulturelles Problem

Beim Maun Homeopathy Project erfahre ich auch mehr darüber, wie sich der HI-Virus in einem Land wie Botswana so massiv ausbreiten konnte. Die hohe Arbeitslosigkeit und die Armut lässt viele Familien ratlos zurück. Sie kennen kaum Antworten auf die Frage, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen. Viele finden sie in der Prostitution, erzählt Irene Mohiemang vom Maun Homeopathy Project: „Ein Mädchen muss oft die ganze Familie erhalten, weil sie die Einzige ist, die mit Sex Geld verdienen kann. Und sie bekommen in der Regel mehr Geld, wenn sie kein Kondom verwenden.“ Auf dieses tragische Geschäft lassen sich viele ein, dabei stellen mittlerweile viele gemeinnützige Organisationen Kondome kostenlos zur Verfügung: „Wir verteilen sie in den Dörfern, in Einkaufszentren, auf öffentlichen Toiletten. Man kann hier sogar in Taxis Kondome bekommen, sodass auch die Betrunkenen in der Nacht welche haben“, erklärt Lebo Sarwanyane. Doch in vielen afrikanischen Kulturkreisen sind Kondome verpönt. Kultur, Religion und Gesellschaft seien ein wesentliches Problem, bedauert Irene Mohiemang: „Männer haben das Recht, zu tun, was immer sie wollen – es ist ein patriarchisches System. Und Poligamie ist in unserer Kultur immer noch tief verwurzelt. Also haben viele Männer mit vielen Frauen Sex – ihre Ehefrauen wissen davon in der Regel nichts. Auf diese Art und Weise bringen sie den Virus in die Familie.“

„Männer haben das Recht, zu tun, was immer sie wollen – es ist ein patriarchisches System. Und Poligamie ist in unserer Kultur immer noch tief verwurzelt. Also haben viele Männer mit vielen Frauen Sex – ihre Ehefrauen wissen davon in der Regel nichts. Auf diese Art und Weise bringen sie den Virus in die Familie.“
Lebo Sarwanyane, Maun Homeopathy Project, über die Situation in Botswana

Zwar ist das Bewusstsein für HIV stärker geworden. Die Regierung versucht, es mit Informationskampagnen weiter zu bilden. Und nicht nur das: „Seit fünf Jahren gibt es in Botswana sehr hohe Gefängnisstrafen für diejenigen, die einen anderen infizieren, obwohl sie von ihrer eigenen Infektion gewusst haben. Und es werden tatsächlich welche verhaftet. Das ist eine gute Sache“, erzählt Sarwanyane. Aber neben strengeren Gesetzen bräuchte es vor allem ein kulturelles Umdenken – und das sei äußerst langwierig: „Frauen dürfen es einfach nicht mehr akzeptieren, wenn ihr Ehemann mit anderen Frauen Sex hat. Wenn er um vier Uhr in der Früh nachhause kommt, müssen sie ihn fragen, wo er gewesen ist und nicht einfach nur still sein und alles akzeptieren. Doch das wäre eine enorme Änderung in unserer Kultur. Es ist sehr schwierig, das zu erreichen.“

Lebo weiß, wovon sie spricht. Es war ihre Mutter Stella, der es an genau diesem Selbstbewusstsein gefehlt hat. Es hätte sie vor einer Infektion mit dem HI-Virus wahrscheinlich bewahrt. Doch Stella hat mittlerweile gelernt, mit dem Virus zu leben. Die moderne Medizin, allem voran die antiretrovirale Therapie, hat das möglich gemacht. Und das „Maun Homepathy Project“ war ihr dabei eine große Unterstützung. In meiner Unterhaltung mit Stella schwingt eine emotionale Ambivalenz mit, die umso deutlicher wird, je länger wir reden. Sie wirkt lebensfroh, einerseits – macht Witze und lacht viel. Doch ihre Erzählungen werden ständig begleitet von einem ernsten Unterton. Einen Partner hat sie schon seit 20 Jahren nicht mehr – das Risiko, ihn anzustecken ist ihr zu hoch. Stella hat viel erlebt. Und obwohl das Thema gesellschaftlich immer noch heikel ist, möchte sie ihre Erfahrungen mit so vielen Menschen wie möglich teilen. Denn Stella Sarwanyane hat erkannt, dass Aufklärung und Bewusstseinsbildung vor all der Forschung die erfolgsversprechendste Strategie sind, um den HI-Virus endlich in den Griff zu kriegen: „Ich besuche viele Dörfer, große und kleine, und lerne den Leuten etwas über HIV. Viele verstehen nicht, was mit ihnen passiert, wenn sie HIV-positiv sind – immer wieder wollen sich welche umbringen. Ich zeige ihnen, wie sie sich gegenseitig helfen können, die Homöopathie spielt dabei eine große Rolle. Das ist meine Mission. Gott hat mir geholfen und ich versuche nun, diese Hilfe weiterzugeben.“
Die Geräuschkulisse in der lutherischen Kirche von Maun hat sich etwas verändert. Unter das Knarren der Holzbänke mischt sich nun auch gelegentliches Schluchzen. Stellas mutige Rede war nicht nur der Bruch mit einem heiklen Tabu, sondern vor allem ein Appell an ihre Mitmenschen. – es hat die Befindlichkeit vieler hier berührend auf den Punkt gebracht.

HIV & Homöopathie

Die alternativmedizinische Behandlungsmethode wird hier als Ergänzung zur herkömmlichen ARV-Therapie verstanden. Die stark verdünnten Wirkstoffe werden in Tablettenform eingenommen und sollen dem Körper dabei helfen, seine natürlichen Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Homöopathie soll also den Körper vor allem dabei unterstützen, die ARV-Therapie besser anzunehmen – und emotionale Stabilität für ein Leben mit dem Virus schaffen. Zwar führen viele Schulmediziner gerne ins Treffen, dass Homöopathie nur eine Pseudowissenschaft sei und die Behandlung keine nachzuweisende Wirkung habe. Hier in Maun werden ihnen aber viele widersprechen.

Geschrieben von Jakob Horvat

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