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Osterweiterung der EU: Zehn Jahre danach

EU-Osterweiterung

Wir schreiben das Jahr 2004: Am 1. Mai erweitert sich die Europäische Union um zehn neue mittel- und osteuropäische Länder (MOEL), zehn Sprachen und insgesamt 75 Milionen Menschen. Während etwa die Hälfte der Bevölkerung der alten EU-Mitgliedsstaaten angesichts dieser historischen Stunde gegenüber der EU-Osterweiterung positiv gestimmt ist, fürchtet sich die andere Hälfte vor einem Zuwanderungsstrom, vor einer Überschwemmung mit billigen (Agrar)Produkten und einem Anstieg der Kriminalität.
Die europäischen Eliten erwarten sich durch die Osterweiterung einen massiven Wirtschaftsimpuls für Europa. Die MOEL selbst wiederum einen Anstieg ihrer Einkommen und Lebensstandards, direkte Geldflüsse aus Kohäsions- und Strukturfonds und nicht zuletzt ein Leben in Freiheit, Sicherheit und Demokratie.
Wolfgang Schüssel, damaliger österreichischer Bundeskanzler, betonte etwa die Chancen der Osterweiterung für Österreichs Wirtschaft und die Arbeitsplätze, die durch die Ostöffnung bereits geschaffen wurden und durch den EU-Beitritt noch zu erwarten sind. Romano Prodi wiederum, damaliger Präsident der Europäischen Kommission, lenkte das Augenmerk auf die wirtschaftlichen Potenziale eines gemeinsamen Binnenmarktes. Dabei bezog er sich auf Studien, denen zufolge die Osterweiterung den MOEL zwischen fünf und acht Prozent und den alten EU-Mitgliedsstaaten etwa ein Prozent BIP-Wachstum bringen würde. Seriöserweise warnte er auch vor der zunehmenden Komplexität der europäischen Entscheidungsprozesse und einer steigenden Einkommensungleichheit.

Osterweiterung & der Ost-Kaiser Österreich

Die positiven Auswirkungen der Osterweiterung auf Österreich sind heute unumstritten. Immerhin gehen 18 Prozent der österreichischen Exporte in die östlichen EU-Mitgliedsstaaten. Das enstpricht mehr als sieben Prozent des österreichischen BIP (2013). Österreichische Investoren nehmen in dieser Region eine herausragende Stellung ein. Ein kürzlich dazu erschienener Bericht des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) skizziert die österreichische Position bei der Osterweiterung wie folgt: In Slowenien und Kroatien ist Österreich als Auslandsinvestor die Nummer eins. In Bulgarien und der Slowakei ist es Nummer zwei, in Tschechien Nummer drei und in Ungarn Nummer vier.
Obwohl sich der EU-Beitritt Österreichs erst 2015 jährt, untersuchte das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung (wifo) bereits die wirtschaftlichen Auswirkungen: „Nicht nur aus politischer Sicht ist Österreich ein moderneres und europäischeres Land geworden. Es hat von jedem einzelnen wirtschaftlichen Integrationsschritt profitiert“, meint der wifo-Ökonom Fritz Breuss. In seiner Untersuchung über die Auswirkungen des EU-Beitritts kommt er zu dem Schluss, dass die Osterweiterung, die EU-Mitgliedschaft, die Euro-Einführung und die Teilnahme am EU-Binnenmarkt Österreich jährlich zwischen 0,5 und ein Prozent BIP-Wachstum gebracht haben. Obwohl Österreich also einer der größten wirtschaftlichen Profiteure der Ostöffnung und EU-Osterweiterung ist, gehört die Bevölkerung zu ihren größten Skeptikern. 2004 befürworteten nur 34 Prozent die Osterweiterung, 52 Prozent lehnten sie strikt ab. Mittlerweile hat sich diese Einschätzung jedoch geändert. Heute halten immerhin 53 Prozent der Österreicher die Osterweiterung nachträglich für eine gute Entscheidung.

„Die Lebensstandards haben sich in den meisten Ländern massiv verbessert. In Bulgarien und Rumänien hat sich das BIP pro Kopf sogar verdoppelt.“

Der Ost-Block

In den neuen Mitgliedsstaaten der Osterweiterung fällt die gesamtwirtschaftliche Bilanz ebenfalls durchwegs positiv aus. Bis auf das erste Krisenjahr 2009 lag das Wirtschaftswachstum aller zehn neuen Mitgliedsstaaten über dem der „alten EU“. Dieser Wachstumsunterschied bedeutet, dass sie sich der EU wirtschaftlich angenähert haben. In den baltischen Staaten beispielsweise ist die Wertschöpfung zwischen 2004 und 2013 etwa um ein Drittel gestiegen, in Polen sogar um 40 Prozent. Die Lebensstandards haben sich in den meisten Ländern ebenfalls massiv verbessert. In Bulgarien und Rumänien hat sich das BIP pro Kopf sogar verdoppelt.
Auch die lang ersehnten Gelder aus den EU-Struktur- und -Kohäsionsfonds sind geflossen. Zwar nicht in dem Ausmaß in dem es sich die Länder erwartet hatten, doch lag dies in erster Linie an ihrer eigenen Absorptionskapazität. Regionen mit schwachen institutionellen Rahmenbedingungen konnten die ihnen zugestandenen Mittel nicht in vollem Ausmaß abschöpfen. Zudem erwies sich die erforderliche nationale Kofinanzierung als großes Hindernis. Nichtsdestotrotz haben die Osterweiterung und damit verbundene, beträchtliche Summen den Ländern geholfen, ihre Infrastruktur, Umweltstandards, Humankapital und die Qualität der öffentlichen Verwaltung zu verbessern. Die Auslandsinvestitionen, die aus den alten EU-Mitgliedsstaaten geflossen sind, haben die Wettbewerbsfähigkeit dieser Länder verbessert und ein technologisches Upgrading nahezu aller Produktionsprozesse bewirkt.

Binnenmarkt bringt mehr Wachstum?

Die zentrale Erwartung der Europäischen Wirtschaftsarchitekten war, dass ein erweiterter Binnenmarkt – nun bestehend aus 500 Millionen Konsumenten und 21 Milionen Unternehmen – einen massiven Wachstumsimpuls für Europa bringen müsste, sofern seine vier Grundfreiheiten (freier Waren-, Dienstleistungs-, Kapital- und Personenverkehr) und gemeinsame Wettbewerbsregeln gewährleistet sind. Dieser von Ökonomen vorausgesagte Effekt ist ausgeblieben. Die EU-Wirtschaft wuchs in den Jahren 2004 bis 2013 im Schnitt um schlappe 1,1 Prozent.
Die Gründe dafür sind umstritten. Während die einen sie in den nicht vollständig gewährleisteten Grundfreiheiten sehen (Dienstleistungen können erst seit 2010 EU-weit angeboten werden), orten sie andere in der starken wirtschaftlichen Heterogenität der EU-Staaten. So ist etwa die EU-Wechselkurspolitik auf Länder mit einer starken Wettbewerbsfähigkeit zugeschnitten. Simeon Djankov, ehemaliger bulgarischer Finanzminister und Vizepremier, beschreibt diese Asymmetrie am Beispiel Portugals: Für Portugal bedeutet der harte Euro, „dass es in einem festen Wechselkursregime nicht wettbewerbsfähig sein kann, so lange es seinen Arbeitsmarkt und seine Wirtschaftsregulativa nicht reformiert. Da seine Währung überbewertet ist, kann Portugal seine Güter und Dienstleistungen nicht zu wettbewerbsfähigen Preisen am Weltmarkt absetzen.“
Die europäische Antwort auf das flaue Wirtschaftswachstum hieß zunächst Lissabon Agenda. Ein wirtschaftspolitischer Masterplan, der Europa „innerhalb von zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt“ machen sollte. Nachdem jedoch festgestellt werden musste, dass diese Ziele zu hoch gesteckt sind, lautet die Antwort nun „Europa 2020 Strategie“.
Europa 2020 ist ein auf zehn Jahre angelegtes Wirtschaftsprogramm, das 2010 vom Europäischen Rat verabschiedet wurde. Sein Ziel ist „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ mit einer besseren Koordinierung der nationalen und europäischen Wirtschaft. Die Schwerpunkte liegen auf der Förderung von Forschung und Entwicklung, von Hochschulbildung und lebenslangem Lernen. Gleichzeitig liegt das Augenmerk auf einer besseren gesellschaftlichen Integration sowie auf einer Förderung umweltfreundlicher Technolo­gien.

Die Herausforderungen

Trotz dieser hohen Ambitionen, hat uns die anhaltende Wirtschaftkrise die Mängel der europäischen Wirtschaftsarchitektur brutal vor Augen geführt. Das Wirtschaftswachstum ist in allen EU-Mitgliedsstaaten eingebrochen und hat europaweit zur stärksten Rezession der Nachkriegszeit geführt.
Während die Arbeitslosigkeit vor der Wirtschaftskrise europaweit im Rückgang war, stieg sie ab 2008 rasant an und erreichte wieder zweistellige Niveaus. Die neuen und südlichen EU-Mitgliedsstaaten bilden dabei leider das Schlusslicht. Ende 2013 schätzte Eurostat, dass in der gesamten EU 26,2 Millionen Männer und Frauen sowie 5,5 Millionen Jugendliche unter 25 Jahren keinen Job hatten. Arbeitslosigkeit insgesamt und Jugendarbeitslosigkeit im Speziellen gehören aktuell zu den größten Herausforderungen der EU, denn eine ganze Generation an Jugendlichen ohne Job und reale Perspektive auf ein selbstbestimmtes Leben ist als politisches Scheitern zu sehen.
Ein weiteres Problem, mit dem sich die EU konfrontiert sieht, ist ein immenser Anstieg der Ungleichheit. Alleine der Umstand, dass sich 2004 die EU bevölkerungsmäßig zwar um 20 Prozent, wirtschaftlich jedoch lediglich um fünf Prozent erweiterte, ließ die Einkommensunterschiede in der EU um etwa 20 Prozent steigen. Aufgrund der weitgehend egalitären Einkommensverhältnisse während der kommunistischen Regime (Prinzip: alle haben wenig) stieg die Ungleichheit in den neuen Mitgliedsstaaten besonders stark an.
Dies ist jedoch ein Problem der gesamten westlichen Welt: Das verfügbare Einkommen hat sich in den letzten drei Dekaden in allen OECD-Staaten zunehmend ungleicher verteilt. Diese Entwicklung der Einkommensungleichheit geht mit einer Verschiebung von Einkommen weg von Löhnen, hin zu Kapitalerträgen einher. Gleichzeitig steigen die höchsten Einkommen stetig an, während die Besteuerung dieses oberen einen Prozents der Höchstverdiener in allen OECD-Ländern zurückgeht.

Abseits der Wirtschaft

Abseits der wirtschaftlichen Erfolge und Herausforderungen hat die Osterweiterung auch eine historische Dimension. Europa hat sich nach der 50-jährigen Teilung in zwei Blöcke und dem Kalten Krieg wieder vereint. Das wichtigste Ziel der Europäische Integration, nämlich Frieden und Sicherheit für Europa zu schaffen, ist tatsächlich aufgegangen.
Heute kämpfen alte wie neue EU-Mitgliedsstaaten mit wirtschaftlichen, sozialen und politischen Problemen. Der EU-Beitritt alleine ist dabei kein Allheilmittel für die Herausforderungen unserer Zeit. Es ist jedoch fraglich, ob diese zehn Länder es geschafft hätten, sich ohne EU-Beitritt aus ihren totalitären, von Russland dominierten Regimen zu befreien und in funktionierende Demokratien zu verwandeln. Stichwort: Ukraine.

Foto/Video: Shutterstock.

Geschrieben von Veronika Janyrova

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